Ihre deutschsprachige Rechtsanwaltskanzlei zu Kartellrecht und EU-Recht
CBBL Rechtsanwalt und Advocaat Prof. Dr. Robin van der Hout, LL.M., Kanzlei Kapellmann und Partner Rechtsanwälte mbB, Brüssel
Prof. Dr. Robin van der Hout, LL.M.
Rechtsanwalt und Advocaat
Kapellmann und Partner Rechtsanwälte mbB, Brüssel


EU-Prozessrecht

Von unserem deutschsprachigen CBBL-Anwalt in Brüssel, Herrn Rechtsanwalt und Advocaat Prof. Dr. Robin van der Hout, LL.M., vanderhout@cbbl-lawyers.de, Tel. +32 - 2 - 234 11 60, www.kapellmann.de

Ich habe Fragen zum EU-Prozessrecht.

  1. Welche Klagemöglichkeiten stehen mir vor der europäischen Gerichtsbarkeit als natürliche oder juristische Person offen?
  2. Was muss ich bei den einzelnen Klageverfahren an Zulässigkeitsvoraussetzungen und Formalien beachten?
  3. Wie kann ich veranlassen, dass im Rahmen eines nationalen Gerichtsverfahrens das zuständige Gericht eine Vorlagefrage an den Europäischen Gerichtshof stellt, um die von mir vertretene Rechtsposition (Berufung auf Unionsrecht) zu klären?
  4. Was muss ein Rechtsanwalt beachten, wenn im Rahmen eines nationalen Gerichtsverfahrens eine Vorlagefrage an den Europäischen Gerichtshof gestellt wird und er dort in der Folge auftreten soll?
  5. Welche Besonderheiten gelten für die mündliche Verhandlung in Luxemburg?
  6. Unter welchen Umständen kann ich eine Beschwerde zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg erheben?
  7. Wonach richtet sich, ob ich mich an die Unionsgerichtsbarkeit in Luxemburg oder an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg wenden muss?
  8. Wie finde ich Urteile und Schlussanträge der Unionsgerichtsbarkeit?

1. Welche Klagemöglichkeiten stehen mir vor der europäischen Gerichtsbarkeit als natürliche oder juristische Person offen?

Nach Artikel 263 Absatz 4 AEUV kann jede natürliche oder juristische Person im Rahmen von drei Fallgruppen Nichtigkeitsklage erheben:

  • Bei gegen sie gerichteten Handlungen der EU und ihrer Einrichtungen kann beispielsweise mit der Nichtigkeitsklage die Verhängung einer Geldbuße durch die Kommission im Wettbewerbsverfahren angegriffen werden.
  • Bei sie unmittelbar und individuell betreffenden Handlungen der EU und ihrer Einrichtungen, der Kläger muss hier zwar nicht Adressat der gerichtlich angegriffenen Handlung sein, muss aber durch die Handlung wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebenden Umstände berührt und daher in ähnlicher Weise individualisiert sein wie ein Adressat (sog. Plaumann-Formel). Dies kann insbesondere bei Beschlüssen der EU-Organe gegenüber einem Dritten im Bereich des europäischen Wettbewerbsrechts der Fall sein, wenn der Kläger im Vorfeld des Beschlusses am Verwaltungsverfahren beteiligt war, beispielsweise im Rahmen einer Anhörung. Die Klagebefugnis kann sich aber auch aus einer wesentlichen und spürbaren Beeinträchtigung der Markt- oder Wettbewerbsposition ergeben, insbesondere wenn der Beschluss einen Konkurrenten in erheblichem Maße begünstigt. Vor allem im europäischen Wettbewerbs- und Beihilferecht spielen solche Konkurrentenklagen eine wichtige Rolle.
  • Bei Rechtsakten der EU mit Verordnungscharakter, welche die natürliche oder juristische Person unmittelbar betreffen und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen. Das Erfordernis der unmittelbaren Betroffenheit durch einen Rechtsakt der EU führt dazu, dass Richtlinien der EU regelmäßig nicht durch die Nichtigkeitsklage einer gerichtlichen Überprüfung unterzogen werden können. Auch Verordnungen sind meist abstrakt-generelle Regelungen. Ob die unmittelbare Betroffenheit vorliegt, ist daher im Einzelfall zu prüfen.

Neben der Nichtigkeitsklage steht Privaten auch die Untätigkeitsklage (Artikel 265 AEUV) vor den Unionsgerichten offen. Sie kommt (ausnahmsweise) in Betracht, wenn das Europäische Parlament, der Rat, die Kommission oder die EZB es trotz einer bestehenden Rechtspflicht unterlassen haben, einen bestimmten Rechtsakt an die betreffende Person zu richten. Auch hier sind nur verbindliche Rechtsakte erfasst, nicht jedoch Empfehlung oder Stellungnahme. Bei bloßen Ermessensentscheidungen der europäischen Organe kann in der Regel nicht geklagt werden. Ferner gilt es zu beachten, dass, sobald ein Rechtsakt vorliegt, Nichtigkeitsklage erhoben werden muss, auch wenn dieser Rechtsakt nur in der – möglicherweise rechtswidrigen – Ablehnung des eigentlich begehrten Handelns besteht. Die Untätigkeitsklage verhält sich insoweit zur Nichtigkeitsklage subsidiär. Die Untätigkeitsklage kommt ausnahmsweise auch dann in Betracht, wenn die EU-Organe einen Bescheid an einen Dritten nicht erlassen haben und der Kläger dadurch unmittelbar und individuell betroffen ist.

Private haben ferner die Möglichkeit, eine Schadensersatz- bzw. Amtshaftungsklage (vgl. Artikel 268 i.V.m. Artikel 340 Absatz 2 AEUV) gegen die Europäische Union zu erheben, wenn ihnen durch die Organe oder Bediensteten der Union in Ausübung ihrer Amtstätigkeit ein Schaden entstanden ist. Dies kann sowohl gesetzgeberisches als auch exekutives Handeln betreffen. Ausnahmsweise sind auch Klagen wegen judikativen Unrechts zulässig.

Als eine nur „mittelbare“ Möglichkeit der Anrufung der Unionsgerichtsbarkeit ist das Vorabentscheidungsverfahren gemäß Artikel 267 AEUV beim EuGH anzusehen. Die Prozessparteien können eine Vorlage des zuständigen Gerichts an die Unionsgerichte nur „anregen“, aber nicht erzwingen. Näheres dazu unter: "Ich habe Fragen zum EU-Prozessrecht" (3. Frage). Als ebenfalls nur mittelbare Möglichkeit des Rechtsschutzes kommt das inzidente Normenkontrollverfahren gemäß Artikel 277 AEUV in Betracht. Danach kann auch nach Ablauf der Anfechtungsfrist des Art. 263 Absatz 6 AEUV jede Partei die Unanwendbarkeit eines von einem EU-Organ erlassenen Rechtsakts mit allgemeiner Geltung in einem Rechtsstreit, in dem es auf dessen Geltung ankommt, geltend machen. Das inzidente Normenkontrollverfahren stellt kein selbstständiges Verfahren dar, sondern eröffnet Verteidigungsmittel im Rahmen anderer Verfahren und ergänzt das Verfahren nach Art. 263 AEUV.

Alle Mitgliedstaaten der EU sind auch Vertragsstaaten der EMRK. Damit stellt die Individualbeschwerde gemäß Artikel 34 EMRK zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg eine zusätzliche Rechtsschutzmöglichkeit dar. Dabei kann nach Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges die Verletzung eines in der Europäischen Menschenrechtskonvention enthaltenen Grund- und Menschenrechts gerügt werden. Kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass eine staatliche Maßnahme ein Konventionsrecht verletzt hat, ist der jeweilige Vertragsstaat der EMRK völkerrechtlich dazu verpflichtet, diesem Zustand abzuhelfen.

[Rechtsquellen: Artikel 263 ff. und Artikel 340 Absatz 2 EGV, Artikel 34 und 35 EMRK, sowie die jeweiligen Verfahrensordnungen der Gerichte.]

2. Was muss ich bei den einzelnen Klageverfahren an Zulässigkeitsvoraussetzungen und Formalien beachten?

Eingangsinstanz für alle Individualklagen ist das Europäische Gericht (EuG).

Für Nichtigkeitsklagen kommen als Klagegegner das Parlament, der Rat, die Kommission sowie die Europäische Zentralbank (EZB) in Betracht. Die Klagebefugnis besteht nur für Adressaten von Entscheidungen bzw. bei unmittelbarer und individueller Betroffenheit (siehe unter: "Ich habe Fragen zum EU-Prozessrecht" (1. Frage)). Die Klage ist innerhalb einer Frist von zwei Monaten ab Bekanntgabe oder Mitteilung des Rechtsakts an den Kläger bzw. ab seiner Kenntnis zzgl. einer pauschalen Entfernungsfrist von zehn Tagen zu erheben (Artikel 263 Absatz 6 AEUV). Mit der Klage muss einer der in Artikel 263 Absatz 2 AEUV genannten Klagegründe geltend gemacht werden.

Klagegegner bei der Untätigkeitsklage können Rat, Europäischer Rat, Parlament, Kommission oder die EZB sein (Artikel 265 AEUV). Vor Erhebung der Klage muss das EU-Organ aufgefordert werden, tätig zu werden. Erst wenn das Organ innerhalb von zwei Monaten nach der Aufforderung nicht Stellung genommen hat, kann innerhalb einer Frist von weiteren zwei Monaten Klage erhoben werden (Artikel 265 Abs. 2 AEUV). Auch hier kommt die pauschale Entfernungsfrist von zehn Tagen als Fristverlängerung hinzu.

Auch Schadensersatz- bzw. Amtshaftungsklagen Privater müssen zum EuG erhoben werden. Kläger kann jede natürliche oder juristische Person sein, der nach materiellem Recht Schadensersatzansprüche zustehen können (Artikel 268, Artikel 340 AEUV). Die Klage ist gegen die Europäische Union als solche zu richten, vertreten durch das jeweilige Organ, dem die Handlung zugerechnet wird, da der Union selbst wiederum das Handeln des jeweiligen Organs oder Bediensteten zugerechnet wird. Es gilt keine Klagefrist, allerdings verjähren Schadensersatzansprüche gegen die Union nach fünf Jahren, Artikel 46 EuGH-Satzung, so dass Klagen nach Ablauf dieses Zeitraums unzulässig sind. Die Frist beginnt nach Eintritt des schädigenden Ereignisses (Vorliegen sämtlicher Haftungsvoraussetzungen, nicht vor Eintritt der Schadensfolge).

Bei allen Prozessschritten sind insbesondere die für die europäischen Gerichte geltenden Verfahrensordnungen sowie die „praktischen Anweisungen an die Parteien“ zu beachten.

Sämtliche Dokumente sind online verfügbar auf der Seite des Europäischen Gerichtshofes unter: https://curia.europa.eu/jcms/jcms/Jo2_7031/

[Rechtsquellen: Artikel 263 ff. und Artikel 340 Absatz 2 AEUV sowie die Verfahrensordnungen von EuGH und EuG.]

3. Wie kann ich veranlassen, dass im Rahmen eines nationalen Gerichtsverfahrens das zuständige Gericht eine Vorlagefrage an den Europäischen Gerichtshof stellt, um die von mir vertretene Rechtsposition (Berufung auf Unionsrecht) zu klären?

Zunächst besteht nur die Möglichkeit, beim nationalen Gericht eine Vorlage gemäß Artikel 267 AEUV an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) „anzuregen“, indem im nationalen Gerichtsverfahren auf die sich stellende Frage des Unionsrechts hingewiesen wird. Die nationalen Gerichte sind grundsätzlich nicht verpflichtet, dem EuGH eine Frage zur Vorabentscheidung zu stellen; für sie besteht lediglich eine Vorlagemöglichkeit, soweit es um die Auslegung von Unionsrecht geht (Artikel 267 Absatz 2 AEUV). Anders ist es bei „letztinstanzlichen“ Gerichten, für die gemäß Artikel 267 Absatz 3 AEUV eine Vorlagepflicht besteht. In Deutschland sind dies zum einen die (abstrakt) höchsten Bundesgerichte im Sinne von Artikel 95 GG (Bundesgerichtshof, Bundesverwaltungsgericht, Bundesfinanzhof, Bundesarbeitsgericht und Bundessozialgericht) sowie jedes andere im konkreten Rechtsstreit letztinstanzliche Gericht, gegen dessen Entscheidung aus Gründen des Prozessrechts keine Rechtsmittel mehr zulässig sind (z.B. wegen der Berufungsgrenze, § 511 ZPO).

Da die nationalen Gerichte hinsichtlich Unionsrechtsakten keine Verwerfungskompetenz haben, sie also nicht unangewendet lassen können oder für ungültig erklären können, wenn der Unionsrechtsakt nach Ansicht des nationalen Gerichts gegen höherrangiges Unionsrecht verstößt, sind die nationalen Gerichte, selbst wenn sie nicht letztinstanzliche Gerichte im Sinne des Artikel 267 Abs. 3 AEUV sind, im Interesse der Einheitlichkeit des Unionsrechts verpflichtet, die Frage der Vereinbarkeit des Unionsrechtsakts mit höherem Unionsrecht dem EuGH zur Klärung vorzulegen (EuGH, Rs. 314/85, Foto-Frost/HZA Lübeck-Ost).

Unterlässt ein Gericht eine Vorlage trotz Vorlagepflicht, bleibt der betroffenen Partei nur die Möglichkeit, eine Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) wegen Verletzung des (grundrechtsgleichen) Rechts auf den gesetzlichen Richter (Artikel 101 Absatz 1 Satz 2 GG) einzulegen. Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG ist der EuGH als „gesetzlicher Richter“ im Sinne des Grundgesetzes anzusehen. Eine Verletzung dieses grundrechtsgleichen Rechts soll aber nur dann vorliegen, wenn die Vorlage willkürlich unterbleibt. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn das letztinstanzliche Gericht seine Vorlagepflicht grundsätzlich verkennt. Dasselbe gilt, wenn zu einer entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts noch keine oder keine erschöpfende Entscheidung des EuGH vorliegt oder wenn das betreffende Gericht seinen Beurteilungsspielraum im Hinblick auf die entscheidungserhebliche Frage offensichtlich überschritten hat. Es gilt insofern sowohl das Auslegungs- als auch das Verwerfungsmonopol des EuGH für das Unionsrecht, welches durch die nationale Gerichtsbarkeit zu wahren ist.

Insgesamt ist festzuhalten, dass es in der Praxis stark von der Bereitschaft des entscheidenden Gerichts abhängen wird, ob eine Vorlage an den EuGH erfolgt. Über das Kriterium der „Willkürlichkeit“ der Nichtvorlage werden die Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde von vornherein erheblich vermindert.

Auf europäischer Ebene kann eine Beschwerde bei der Kommission wegen des Verhaltens des eigenen Mitgliedstaates erhoben werden, welche zu einem Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 258 AEUV führen kann (vgl. hierzu: "Ich habe Fragen zu Problemen des Binnenmarktes" (Frage 1)).

[Rechtsquellen: Artikel 267 AEUV, Artikel 95 und Artikel 101 Absatz 1 Satz 2 GG.]

4. Was muss ein Rechtsanwalt beachten, wenn im Rahmen eines nationalen Gerichtsverfahrens eine Vorlagefrage an den Europäischen Gerichtshof gestellt wird und er dort in der Folge auftreten soll?

Vor der europäischen Gerichtsbarkeit treffen Juristen aus mittlerweile 27 verschiedenen Jurisdiktionen aufeinander. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) achtet daher streng auf die Einhaltung des Verfahrensrechts. Parteien, die vor dem Europäischen Gerichtshof auftreten bzw. zuvor am schriftlichen Verfahren teilnehmen, sind gehalten, sich an die dazu publizierten Vorschriften zu halten. Hier wird auch bezüglich des jeweils einschlägigen Verfahrens unterschieden. Vor dem EuGH müssen die Parteien gemäß Art. 19 der Satzung des EuGH zwingend durch eine insoweit ermächtigte Person vertreten sein (Anwaltszwang). Anders als etwa in Zivilverfahren vor dem BGH, bei dem nur speziell zugelassene BGH-Anwälte auftreten können, kann vor dem EuGH jeder Anwalt auftreten, der berechtigt ist, vor einem Gericht eines Mitgliedstaats oder eines anderen Vertragsstaats des EWR-Abkommens aufzutreten.

Generell gilt, dass die Vielsprachigkeit und die sich daraus ergebende Notwendigkeit zur Übersetzung berücksichtigt werden müssen. Für die Praxis bedeutet dies, dass Schriftsätze in möglichst klarer und einfach strukturierter Form verfasst werden sollten. Bei Wahrnehmung einer mündlichen Verhandlung empfiehlt es sich, vorab an den Übersetzerdienst eine schriftliche Fassung des Plädoyers zu übermitteln, da so das Simultandolmetschen erheblich vereinfacht wird. Auch bei sich anschließenden Befragungen durch den Gerichtshof sollten die Parteien darauf achten, besonders langsam und deutlich zu sprechen, um eine möglichst wortgetreue Dolmetschung zu ermöglichen. Die Mehrheit der den Fall entscheidenden Richter versteht in der Regel nicht die Muttersprache des Klägers oder des Beklagten und bekommt lediglich die Dolmetschung zu hören bzw. die Übersetzung zu lesen.

Siehe: „Praktische Anweisungen für die Parteien in den Rechtssachen vor dem Gerichtshof“, sowie „Hinweise für den Vortrag in der mündlichen Verhandlung“.

Sämtliche Dokumente sind in der aktuellen Fassung abrufbar unter: https://curia.europa.eu/jcms/jcms/Jo2_7031/.

Zur mündlichen Verhandlung vor den Unionsgerichten vgl. unter: "Ich habe Fragen zum EU-Prozessrecht" (1. Frage).

5. Welche Besonderheiten gelten für die mündliche Verhandlung in Luxemburg?

Im Unterschied zu Gerichtsverhandlungen in den meisten EU-Mitgliedstaaten sind bei Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) sog. Generalanwälte beteiligt. In Anlehnung an eine Tradition des französischen Gerichtswesens haben die Generalanwälte die Aufgabe, den EuGH in seiner Arbeit zu unterstützen. Im Anschluss an die mündliche Verhandlung stellt der Generalanwalt seine Schlussanträge, die einen nicht verbindlichen Entscheidungsvorschlag an den Gerichtshof darstellen. Bei der Abfassung der Anträge ist der Generalanwalt völlig unabhängig. Das ebenfalls in Luxemburg ansässige Europäische Gericht (EuG), welches insbesondere für Individualklagen erstinstanzlich zuständig ist (siehe "Ich habe Fragen zum EU-Prozessrecht" (1. Frage)), wird dagegen in aller Regel nicht durch Generalanwälte unterstützt.

Sowohl vor dem EuGH als auch vor dem EuG kann jede der 24 Amtssprachen der EU-Verfahrenssprache sein. Der Kläger kann prinzipiell eine Sprache seiner Wahl verwenden. Sofern sich die Klage allerdings gegen einen bestimmten Mitgliedstaat oder gegen eine einem Mitgliedstaat angehörige natürliche oder juristische Person (z.B. eine Aktiengesellschaft) richtet, ist die Amtssprache dieses Mitgliedstaates die Verfahrenssprache. Bei Staaten mit mehreren Amtssprachen wie beispielsweise Belgien kann der Kläger eine der in diesem Land verwendeten Sprachen wählen. Bei Vorabentscheidungsverfahren (bei denen das Gericht eines EU-Mitgliedstaates dem EuGH eine bestimmte Frage im Hinblick auf die Auslegung oder Gültigkeit des Unionsrechts vorlegt) ist die jeweilige Sprache des vorlegenden nationalen Gerichts automatisch die Verfahrenssprache. Der Gerichtshof greift bei seiner Arbeit daher auf einen eigenen Sprachendienst (Dolmetscher und Übersetzer) zurück, um seine Aufgaben wahrnehmen zu können. Diese Situation spiegelt den Grundsatz der Gleichheit des Zugangs aller EU-Bürger zur Unionsjustiz wider. Die interne Arbeitssprache des Gerichtshofs ist Französisch.

Für den praktischen Ablauf ist anzuraten, vor der mündlichen Verhandlung den Übersetzerdienst mit einer schriftlichen Version des Plädoyers zu versorgen und dieses möglichst verständlich zu formulieren und frei vorzutragen.

Siehe im Einzelnen die Hinweise zum Verfahren unter: https://curia.europa.eu/jcms/jcms/Jo2_7031/

6. Unter welchen Umständen kann ich eine Beschwerde zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg erheben?

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat die Aufgabe, die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) durch die Vertragsstaaten der Konvention sicherzustellen. Zu diesem Zweck wurde die sog. Individualbeschwerde (Artikel 34 EMRK) eingeführt. Danach hat jede Einzelperson, nichtstaatliche Organisation oder Personengruppe das Recht, sich beim EGMR darüber zu beschweren, dass ein ihr nach der EMRK oder ihren Protokollen zustehendes Recht durch einen Konventionsstaat verletzt wurde.

Für die Beschwerde bestehen bestimmte Zulässigkeitsvoraussetzungen (Artikel 35 EMRK). Bevor der Gang nach Straßburg in Erwägung gezogen wird, muss zunächst der innerstaatliche Rechtsweg ausgeschöpft worden sein. Dies bedeutet, dass alle nach nationalem Recht zulässigen Rechtsbehelfe eingelegt worden (und erfolglos geblieben) sein müssen. Werden zur Verfügung stehende Rechtsbehelfe – z.B. aufgrund eines Fristversäumnisses – ohne hinreichende Entschuldigung nicht eingelegt, kann die Beschwerde zum EGMR nicht mehr erhoben werden. Sobald eine endgültige innerstaatliche Entscheidung vorliegt, läuft seit dem 01.02.2022 eine Frist von (nur noch) vier Monaten, innerhalb derer die Individualbeschwerde erhoben werden kann.

Hinzu kommt, dass die Beschwerde nicht anonym sein darf; der Beschwerdeführer muss sich also namentlich zu erkennen geben (Artikel 35 Abs. 2 lit. a EMRK). Außerdem darf der Antrag nicht mit einer früheren Beschwerde, mit welcher sich der EGMR bereits befasst hat, wesentlich übereinstimmen oder bereits einer anderen internationalen Untersuchungs- oder Vergleichsinstanz (z.B. dem UN-Menschenrechtsausschuss) vorgelegt worden sein (Artikel 35 Abs. 2 lit. b EMRK). Diese Einschränkungen verfolgen das Ziel, den ohnehin stark überlasteten EGMR vor unnötiger Arbeit zu bewahren. Darüber hinaus prüft der EGMR bereits im Rahmen der Zulässigkeit, ob die Beschwerde „offensichtlich unbegründet“ im Sinne von Artikel 35 Absatz 3 lit. a EMRK ist. Dies wird angenommen, wenn für den Gerichtshof auf den ersten Blick erkennbar ist, dass die Beschwerde in der Sache nicht zum Erfolg führen kann, z.B. weil das vom Betroffenen geltend gemachte Recht von der EMRK oder ihren Protokollen überhaupt nicht geschützt wird.

Die Individualbeschwerde kann zunächst persönlich eingereicht werden, anwaltliche Vertretung ist aber empfehlenswert. Ist die Beschwerde zulässig und kommt es in der Folge zur mündlichen Verhandlung, besteht Anwaltszwang. Der EGMR hat für Beschwerdeführer, die nicht über ausreichende finanzielle Mittel verfügen, ein Prozesskostenhilfesystem eingerichtet (in Deutschland umgesetzt im EGMR-Kostenhilfegesetz (EGMRKHG)). Ein Beschwerdeformular und ein Merkblatt können von der Kanzlei des Gerichtshofs angefordert werden und sind auf der Homepage des EGMR abrufbar (www.echr.coe.int).

Stellt der EGMR in seinem Urteil fest, dass Konventionsrechte verletzt wurden, folgt aus dem Urteil die völkerrechtliche Verpflichtung des Vertragsstaates, die Verletzung abzustellen, also im Ergebnis – soweit noch möglich – der Beschwerde des Klägers abzuhelfen (Artikel 46 EMRK). Der Gerichtshof kann dem Kläger darüber hinaus auch eine „gerechte Entschädigung“ (Kompensation) zusprechen (Artikel 41 EMRK), wenn diese durch das nationale Recht nicht gewährleistet ist.

[Rechtsquellen: Artikel 34, 35, 41 und 46 EMRK, EGMR-Kostenhilfegesetz (EGMRKHG, Artikel 1 Gesetz v. 20.04.2013, BGBl. I S. 829 (Nr. 19); zuletzt geändert durch Artikel 148 Absatz 5 v. 31.08.2015, BGBl. I S. 1474.]

7. Wonach richtet sich, ob ich mich an die Unionsgerichtsbarkeit in Luxemburg oder an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg wenden muss?

Die Unionsgerichtsbarkeit besteht aus dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) und dem Gericht der Europäischen Union (EuG). Ihnen obliegt es, die Einhaltung des Unionsrechts durch die EU-Mitgliedstaaten und die EU-Organe sicherzustellen. Das EuG ist dabei als Eingangsinstanz für alle Individualklagen zuständig. Gegen die Entscheidung des EuG kann ein Rechtsmittel zum EuGH eingelegt werden, das allerdings auf die Rüge von Rechtsverletzungen beschränkt ist (keine zweite Tatsacheninstanz). Einzelpersonen haben vor EuG und EuGH nur eingeschränkte Klagemöglichkeiten. Praktisch bedeutsam ist in erster Linie die Nichtigkeitsklage gegen Beschlüsse der Kommission, die entweder direkt an mich oder an einen Konkurrenten gerichtet sind. Im Hinblick auf gesetzgeberisches Handeln der Unionsorgane (Verordnungen, Richtlinien) besteht für den Einzelnen dagegen nur ausnahmsweise die Möglichkeit gerichtlichen Rechtsschutzes (vgl. dazu auch unter: "Ich habe Fragen zum EU-Prozessrecht" (1. Frage)).

An den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) kann man sich wenden, wenn man der Auffassung ist, durch ein Verhalten staatlicher Stellen (Behörden oder Gerichte) des Heimatstaates oder eines anderen Konventionsstaates in einem Recht verletzt worden zu sein, das durch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) oder ihre Zusatzprotokolle garantiert wird. Die EMRK enthält einen Katalog von Grundfreiheiten und Menschenrechten, z.B. das Recht auf Meinungsfreiheit und das Recht auf ein faires Verfahren (fair trial). Die Zusatzprotokolle ergänzen die EMRK und gewährleisten weitere Individualrechte, wie etwa das Eigentums- und Wahlrecht. Da die Europäische Union bisher keine Vertragspartei der EMRK ist, kann gegen das Handeln ihrer Organe noch keine Individualbeschwerde beim EGMR erhoben werden. Zwar schreibt Artikel 6 Absatz 2 EUV den Beitritt der EU zur EMRK vor, aktuell können sich die Entscheidungsträger aber noch nicht dazu durchringen (vgl. hierzu: "Ich habe Fragen zum Verhältnis zwischen Unionsrecht und nationalem Recht" (1. Frage)). Deutschland wurde verschiedentlich wegen eines Verstoßes gegen das Recht auf ein faires Verfahren verurteilt. Der Verstoß lag dabei meist in einer überlangen Verfahrensdauer vor den nationalen Gerichten.

Für die Klärung der Frage, ob man sich an den EuGH in Luxemburg oder den EGMR in Straßburg wenden muss, ist also entscheidend, ob man gegen ein Handeln von EU-Organen (insbesondere der Kommission) vorgehen will, oder ob man sich durch ein Verhalten des Heimatstaates oder eines anderen Vertragsstaates der EMRK in seinen Grundrechten aus der EMRK verletzt sieht.

Urteile beider Gerichtsbarkeiten sind für die Staaten verbindlich und müssen befolgt werden. Für Urteile des EuGH und des EuG besteht zudem die Möglichkeit der unionsrechtlichen Durchsetzung mittels Zwangsgeldern und Pauschalbeträgen sowie bei Nichtumsetzung auch eines zweiten Feststellungsurteils.

8. Wie finde ich Urteile und Schlussanträge der Unionsgerichtsbarkeit?

Das der EU-Kommission zugehörige Amt für Veröffentlichungen stellt das kostenlose Online-Portal EUR-Lex für das Unionsrecht bereit: https://eur-lex.europa.eu.

Mit Hilfe der EUR-Lex-Datenbank können Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und des Europäischen Gerichts erster Instanz (EuG) sowie Schlussanträge der Generalanwälte abgerufen werden. Es ist hierbei jedoch erforderlich, das Aktenzeichen der Rechtssache (z.B.: C-412/03) oder die Fundstelle in der amtlichen Sammlung (z.B.: Slg. 1995, I-4165) zu kennen. EUR-Lex ist in allen 24 Amtssprachen der EU abrufbar. Urteile und Schlussanträge sind nicht immer in allen Amtssprachen erhältlich. Sie sind aber jedenfalls in der Verfahrenssprache und in einer der Hauptarbeitssprachen (Englisch oder Französisch) verfügbar.

Alternativ dazu kann auch direkt die Internetseite des EuGH und EuG in allen Amtssprachen konsultiert werden: https://curia.europa.eu.

Unter https://curia.europa.eu/juris/recherche.jsf?language=de findet sich ein Suchformular, mit dem die aktuelle Rechtsprechung (ab dem 17.06.1997) des EuG und EuGH abgerufen werden kann. Ein Verzeichnis der Rechtssachen mit Zugriff auf den Volltext der Urteile findet sich unter https://curia.europa.eu/jcms/jcms/P_106308/de/

Im Vergleich zu EUR-Lex bestehen dort erweiterte Recherchemöglichkeiten. Mit Hilfe des Suchformulars können Urteile und Schlussanträge auch dann gefunden werden, wenn z.B. nur der Name der Parteien, bestimmte Schlüsselbegriffe oder nur der Sachbereich bekannt ist, nicht aber das Aktenzeichen der Rechtssache. Darüber hinaus ist es auch möglich, die Suche auf ein konkretes Sachgebiet zu beschränken und so einen raschen Überblick über die hierzu ergangene Rechtsprechung der Unionsgerichtsbarkeit zu gewinnen.

Ferner hält die Homepage der Unionsgerichtsbarkeit ein Repertoire der Rechtsprechung in überwiegend französischer Sprache bereit, in dem Verweise auf Urteile nach Sachgebieten zu finden sind: https://curia.europa.eu/jcms/jcms/Jo2_7046/de/.

Sie haben weitere Fragen zum EU-Prozessrecht und wünschen Beratung? Sprechen Sie uns an!

Unser deutschsprachiger CBBL-Anwalt in Brüssel, Herr Rechtsanwalt und Advocaat Prof. Dr. Robin van der Hout, LL.M., berät Sie gerne: vanderhout@cbbl-lawyers.de, Tel. +32 - 2 - 234 11 60, www.kapellmann.de


Stand der Bearbeitung: April 2023