Eine autonome juristische Person ist eine autonome juristische Person. Tatsächlich?
Eine autonome juristische Person ist eine autonome juristische Person. Tatsächlich?
Bei einer Unternehmensinsolvenz in Frankreich erfolgt die Kündigung von Arbeitsverträgen regelmäßig durch den Insolvenzverwalter. Die Arbeitnehmer mußten bislang mit ihren Kündigungsschutzklagen gegen die Arbeitgeber-Gesellschaft, vertreten durch den Insolvenzverwalter, vorgehen – und nicht gegen eine andere Gesellschaft.
Artikel 1165 des code civil (= frz. BGB) unterstreicht ausdrücklich die Autonomie einer jeden rechtsfähigen Person: „Verträge haben Rechtsfolgen nur zwischen den Vertragsparteien (...)“.
Am 18. Januar 2011 erließ die französische Cour de cassation (chambre sociale) (etwa: frz. BGH, Arbeitskammer) eine Entscheidung, die diese Realität zu kippen droht. Es droht neuerdings eine direkte Klage der Arbeitnehmer gegen die Muttergesellschaft, die auch eine deutsche Gesellschaft sein kann.
Nach der genannten Entscheidung sollen Muttergesellschaften unter erleichterten Voraussetzungen als Mitarbeitgeberin der Arbeitnehmer ihrer Tochtergesellschaft angesehen werden. Und dies, ohne daß die Muttergesellschaft jemals Arbeitsverträge mit den Arbeitnehmern geschlossen hätte.
Zum ersten Mal wurde seitens der Cour de cassation die Existenz eines Arbeitsverhältnisses ohne den Nachweis eines Über-Unterordnungsverhältnisses bejaht.
Die finanziellen Risiken für die Muttergesellschaften sind enorm:
Bei Feststellung der Rechtswidrigkeit der Kündigung wird der Schadensersatz gerichtlich nicht selten auf 1-2 Jahresgehälter festgesetzt, zzgl. Finanzierung des Arbeitslosengeldes während 6 Monaten, wenn das Unternehmen mehr als 10 Arbeitnehmer beschäftigte und der betroffene Arbeitnehmer eine Betriebszugehörigkeit von mindestens 2 Jahren aufwies.
Nachfolgend sollen der zugrundeliegende Sachverhalt (I.) und die Entscheidung (II.) mitgeteilt werden. Mit einem kurzen Kommentar (III.) soll geschlossen werden.
I.Sachverhalt
Folgender relevante Ausschnitt des Sachverhalts sei mitgeteilt:
Im Jahre 1974 hatte die frz. Gesellschaft JUNGHEINRICH FINANCES HOLDING SAS (nachfolgend: JFH) die frz. Gesellschaft MECANIQUE INDUSTRIE CHIMIE SA (nachfolgend: MIC) übernommen und hielt fortan über 99 % der Anteile an der MIC. JFH selbst wurde vom deutschen JUNGHEINRICH-Konzern (Kerngeschäft: Herstellung und Vertrieb von Staplern) gehalten. JFH hielt selbst noch eine andere französische Gesellschaft, die JUNGHEINRICH France SAS.
MIC beschäftigte über 200 Arbeitnehmer. Aufgrund wirtschaftlicher Probleme wurde sämtlichen Arbeitnehmern der MIC im Jahre 2004 betriebsbedingt gekündigt. Seit dem 14. Dezember 2005 befindet sich MIC in einer liquidation judiciaire (frz. Insolvenzverfahren).
Die gesamte gekündigte Belegschaft der MIC legte Kündigungsschutzklagen ein, sowohl gegen MIC (= Arbeitgeberin und Kündigende), als auch gegen deren Muttergesellschaft JFH.
Sowohl MIC als auch JFH sind autonome juristische Personen des französischen Rechts: MIC ist eine SA (frz. Aktiengesellschaft), JFH eine SAS (= frz. Vereinfachte Aktiengesellschaft).
In den unteren Instanzen obsiegten die Arbeitnehmer und JFH wurde zu horrenden Schadensersatzsummen verurteilt. Dagegen wandte sich JFH vor der Cour de cassation.
II.Entscheidung (Cour de cassation vom 18. Januar 2011)
JFH ist auch vor der 3. Instanz in Frankreich (Revisionsinstanz) unterlegen.
Hier auszugsweise die Leitsätze der Cour de cassation:
Es wurde festgestellt, „(...) daß die wirtschaftliche Tätigkeit der Gesellschaft MIC vollständig in Abhängigkeit von der Gruppe Jungheinrich ausgeübt wurde, die 80 % ihrer Produktion abnahm und die Preise festsetzte. Die Gesellschaft JFH war fast alleinige Inhaberin ihres Kapitals, das restliche Kapital wurde vom Geschäftsleiter der Holding-Gesellschaft gehalten. Es bestand ein gemeinsames Personalmanagement bei den Gesellschaften MIC und Jungheinrich France unter der Leitung der Gesellschaft JFH, die der Gesellschaft MIC ihre strategischen Orientierungen vorgab (...). Die Gesellschaft JFH beteiligte sich fortdauernd an den Entscheidungen zur Finanzverwaltung und zum Personalmanagement im Rahmen der Tätigkeitseinstellung bei der Gesellschaft MIC und der Entlassung ihrer Arbeitnehmer. Sie übte somit die operationelle und administrative Leitung ihrer Tochtergesellschaft aus, die über keine Autonomie verfügte.“
Hieraus folgerte das Gericht, „(...) daß zwischen der Gesellschaft JFH und der Gesellschaft MIC eine Vermischung hinsichtlich der Interessen, der Tätigkeit und der Leitung bestand und daß folglich die Gesellschaft JFH die Eigenschaft als Mitarbeitgeberin gegenüber den Arbeitnehmern der Gesellschaft MIC innehatte.“
III.Kommentar
Folgende Elemente haben der Cour de cassation genügt, um festzustellen, daß die JFH als Mitarbeitgeberin anzusehen ist:
Die Tochter stand in Abhängigkeit von der Gruppe.
Die Gruppe nahm 80 % der Produktion der Tochter ab und fixierte die Preise.
Die Mutter hielt nahezu alle Anteile der Tochter.
Die Strategie der Tochter wurde von der Mutter bestimmt.
Finanzielle und HR-Entscheidungen betreffend die Tochter wurden regelmäßig von der Mutter getroffen.
Die Mutter übernahm die faktische Führung der Tochter.
Freilich gab es im frz. Handelsrecht auch vorher, im Rahmen des Artikels L. 621-2 des code de commerce (= frz. Handelsgesetzbuch), die Möglichkeit, ein gegen eine Gesellschaft (hier: MIC) eröffnetes Insolvenzverfahren auf eine andere Gesellschaft (hier: JFH) auszuweiten. Zwei Fallgruppen kommen in Betracht:
Der Fall der Vermischung des Vermögens und der Fall der fiktiven Gesellschaft (ständige Rechtsprechung; vgl. etwa: Cour de cassation, Handelskammer vom 20. Oktober 1992).
Hierbei gilt aber:
- Zuständig für eine Ausweitung des Insolvenzverfahrens auf die Muttergesellschaft nach Artikel L. 621-2 des code de commerce ist das ursprünglich angegangene Insolvenzgericht (in Frankreich: Tribunal de commerce bzw. Tribunal de grande instance). Bei JUNGHEINRICH wurde die Sanktion durch die Arbeitsgerichtsbarkeit verhängt.
- Außerdem ist die Rechtsfolge eine andere: Aufgrund einer Ausweitung des Insolvenzverfahrens nach Artikel L. 621-2 des code de commerce wird über das Vermögen der Muttergesellschaft auch das Insolvenzverfahren eröffnet. Mit der JUNGHEINRICH-Entscheidung wurde hingegen festgestellt, daß Arbeitsverhältnisse der Arbeitnehmer der Tochtergesellschaft (MIC) mit der Muttergesellschaft (JFH) bestehen.
Die JUNGHEINRICH-Entscheidung spricht – terminologisch unscharf – von „(...) Vermischung hinsichtlich der Interessen, der Tätigkeit und der Leitung (...)“.
Materiell-rechtlich sei hier lediglich darauf hingewiesen, daß nach der höchstrichterlichen frz. Handelskammer-Rechtsprechung folgende Elemente für eine Ausweitung des Insolvenzverfahrens auf die Muttergesellschaft nicht genügen:
- Identische Geschäftsführer und zentrale Verwaltung (Cour de cassation, Handelskammer vom 11. Mai 1993),
- Tatsache, daß eine Gesellschaft die Mehrheit der Anteile der anderen Gesellschaft hält (Cour de cassation, Handelskammer vom 28. Juni 1994).
Aus alledem ist zu folgern, daß mit der JUNGHEINRICH-Entscheidung ein echtes neues Richterrecht der frz. Arbeitsgerichtsbarkeit geschaffen wurde.
Was ist deutschen Muttergesellschaften mit frz. Töchtern nun zu raten?
Aus unserer Praxis wissen wir, daß die Art der Organisation und Aktivität von Gruppen, wie sie im JUNGHEINRICH-Urteil beschrieben wird, im deutsch-französischen Kontext sehr häufig anzutreffen ist.
Es ist auch nicht auszuschließen, daß künftig Arbeitsgerichte im Einzelfall sogar nur einige der JUNGHEINRICH-Kriterien ausreichen lassen werden, um die Rechtsfolge der Mitarbeitgeberschaft anzuwenden.
Insofern ist die JUNGHEINRICH-Rechtsprechung ein neues scharfes Schwert der frz. Arbeitsgerichtsbarkeit.
Es sollte, zur Vermeidung von Risiken, künftig darauf geachtet werden, daß die genannten Kriterien der JUNGHEINRICH-Entscheidung bei der gesellschaftsrechtlichen Organisation in Frankreich möglichst vermieden werden.