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EuGH setzt Grenzen für die EU-Fusionskontrolle
14.11.2024
Von unserem deutschsprachigen CBBL-Anwalt in Brüssel, Herrn Rechtsanwalt und Advocaat Prof. Dr. Robin van der Hout, LL.M., vanderhout@cbbl-lawyers.de, Tel. +32 - 2 - 234 11 60, www.kapellmann.de
Am 03. September 2024 vollzog der Europäische Gerichtshof (EuGH) in der Rechtssache Illumina / Gail (C 611/22 P) eine bedeutende Wende in der Auslegung des Art. 22 der EU-Fusionskontrollverordnung (FKVO). Dieser Beitrag gibt einen Überblick über die Hintergründe der Entscheidung und beleuchtet deren Auswirkungen auf die Fusionskontrolle in der EU.
I. Hintergrund der EuGH-Entscheidung
Im September 2020 gaben die US-Unternehmen Illumina Inc. und Grail LLC ihre geplante Fusion bekannt. Da Grail, spezialisiert auf die Entwicklung von Bluttests zur Früherkennung von Krebs, weder in der EU noch in anderen Regionen Umsätze generierte, erfüllte der Zusammenschluss weder die Umsatzschwellen des Art. 1 FKVO noch die Geltungsvoraussetzungen der nationalen Fusionskontrollen der Mitgliedstaaten. Vor diesem Hintergrund erfolgte keine Anmeldung auf EU- oder nationaler Ebene.
Die Europäische Kommission forderte gleichwohl die Mitgliedstaaten auf, gem. Art. 22 Abs. 1 FKVO einen Verweisungsantrag für die Fusionskontrolle zu stellen, da sie eine Beeinträchtigung des Wettbewerbs im Binnenmarkt befürchtete. Dieser Aufforderung kamen die Wettbewerbsbehörden von Frankreich, Belgien, Island, Griechenland, Niederlande und Norwegen nach. Mit der Annahme dieser Anträge durch die Kommission galt ein Vollzugsverbot für den geplanten Zusammenschluss.
Illumina klagte im April 2021 gegen diesen Beschluss der Kommission. Im Juli 2022 bestätigte das Gericht der Europäischen Union (EuG) das Vorgehen der Kommission, was Illumina und Grail veranlasste, Rechtsmittel einzulegen.
II. Begründung des EuGH
Zentraler Punkt des Rechtsstreits war die Neuinterpretation von Art. 22 FKVO durch die EU-Kommission Anfang 2021, welche mit Veröffentlichung des Leitfadens zur Anwendung des Verweisungssystems nach Art. 22 FKVO (2021/ C 113/01) formalisiert wurde. Art. 22 Abs. 1 FKVO räumt der Kommission die Möglichkeit ein, auf Antrag eines Mitgliedstaates eine Fusionskontrolle durchzuführen, auch wenn die Fusion keine unionsweite Bedeutung hat. Ursprünglich war diese Vorschrift dazu gedacht, der Kommission eine Kontrollbefugnis einzuräumen für Fusionsfälle von Mitgliedstaaten, die kein eigenes Kontrollregime haben. Die Kommission legte Art. 22 FKVO jedoch dahingehend weit aus, dass Art. 22 Abs. 1 FKVO für alle Zusammenschlüsse gilt, also nicht nur für solche, die die jeweiligen Zuständigkeitskriterien der verweisenden Mitgliedstaten erfüllen, um sog. „Killer-Akquisitionen“ zu prüfen – Zusammenschlüsse, bei denen große Unternehmen Start-Ups übernehmen, deren Umsätze unterhalb der EU- und nationalen Schwellenwerte liegen, aber dennoch erhebliche Auswirkungen auf den Wettbewerb haben könnten.
Mit dem aktuellen Urteil widerspricht der EuGH dieser weiten Auslegung und hob das Urteil des EuG auf und erklärt die Verweisungsentscheidung der Kommission für nichtig.
Bereits der Generalanwalt Emiliou hatte in seinen Schlussanträgen kritisiert, dass die bisherige Auslegung zu Rechtsunsicherheit führe, da die Kommission nahezu jede Fusion prüfen könnte, unabhängig von den Umsätzen der beteiligten Unternehmen.
Der EuGH hält fest, dass die Kommission nicht berechtigt ist, die Verweisung von geplanten Zusammenschlüssen ohne europaweite Bedeutung durch nationale Wettbewerbsbehörden an sie anzuregen oder zu akzeptieren, wenn diese nach nationalem Recht nicht für die Prüfung dieser Vorhaben zuständig sind. Der Gerichtshof stellt klar, dass die Fusionskontrolle nicht als allgemeines Korrektiv für Lücken im System der Fusionskontrolle verwendet werden darf, indem auch Zusammenschlüsse unterhalb der Schwellenwerte geprüft werden (Rn. 192, 2019.)
Ferner betonte der Gerichtshof, dass die Umsatzkriterien ein wichtiger Garant für die Vorhersehbarkeit und Rechtssicherheit der Unternehmen sind und eine Umgehung durch Verweisung nicht zulässig ist. Denn die Unternehmen müssen leicht feststellen können, ob ihr geplanter Zusammenschluss einer vorherigen Anmeldung bedarf (Rn. 208 f.).
III. Einordnung und Ausblick
Künftig darf die Europäische Kommission Fusionen insofern nur dann prüfen, wenn ein Mitgliedstaat nach nationalem Recht zuständig ist oder keine eigenen Fusionskontrollregelungen hat. Das Urteil grenzt damit die Befugnisse der nationalen Behörden und jenen der Kommission deutlicher ab, wodurch verhindert wird, dass die Kommission bei Fusionsfällen eingreift, die nicht die notwendige wirtschaftliche Dimension oder Wettbewerbsrelevanz aufweisen.
Dieses Urteil schafft mehr Rechtssicherheit, insbesondere für Unternehmen, die durch klare Schwellenwerte eine bessere Vorhersehbarkeit erhalten, ob ein geplanter Zusammenschluss einer Kontrolle unterliegt.
Allerdings bleibt offen, wie die Kommission künftig mit fusionskontrollrechtlichen Herausforderungen umgehen wird, denn das Kernanliegen der Kommission bleibt unverändert. In einer öffentlichen Stellungnahme vom 03.09.2024 kündigte die mittlerweile ausgeschiedene Vizepräsidentin der Kommission, Margrethe Vestager, an, das Urteil und seine Konsequenzen zu prüfen und betonte dabei weiterhin die Notwendigkeit der Fusionskontrolle auch unterhalb der Schwellenwerte. Sie deutete dabei auch mögliche Reformen an, siehe hier.
Zwar schafft die Entscheidung des EuGH zunächst Rechtssicherheit, jedoch sind die fusionierenden Unternehmen gut beraten, die Entwicklungen aufmerksam zu verfolgen.
Sie haben weitere Fragen zur Entscheidung des EuGH zu Grenzen für die EU-Fusionskontrolle? Sprechen Sie uns an!
Unser deutschsprachiger CBBL-Anwalt in Brüssel, Herr Rechtsanwalt und Advocaat Prof. Dr. Robin van der Hout, LL.M., berät Sie gerne: vanderhout@cbbl-lawyers.de, Tel. +32 - 2 - 234 11 60, www.kapellmann.de