Aktuelles zum Kartellrecht und EU-Recht
Lange erwartet, nun in Kraft – das Vorabentscheidungsverfahren im neuen prozessrechtlichen Gewand
25.09.2024
Von unserem deutschsprachigen CBBL-Anwalt in Brüssel, Herrn Rechtsanwalt und Advocaat Prof. Dr. Robin van der Hout, LL.M., vanderhout@cbbl-lawyers.de, Tel. +32 - 2 - 234 11 60, www.kapellmann.de
Es gibt wichtige Neuigkeiten im Bereich des EU-Prozessrechts. Zum 01. September 2024 ist eine Reform der Vorabentscheidungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Kraft getreten. Dieser Beitrag soll einen Überblick über die zwei wichtigsten und für die Praxis bedeutendsten Änderungen bezüglich der Zuständigkeitsverteilung am Gerichtshof und dem Zugang zu Dokumenten geben.
I. Funktion des Vorabentscheidungsverfahrens
Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH ist in Art. 267 AEUV geregelt. Dieses ermöglichen nationalen Gerichten, Fragen zur Auslegung des Unionsrechts oder zur Gültigkeit von EU-Rechtsakten dem EuGH zur Entscheidung vorzulegen. Dabei haben Gerichte, deren Entscheidungen nicht mehr anfechtbar sind – in Deutschland etwa die Bundesgerichte – die Pflicht, eine Vorabentscheidung einzuholen, wenn eine Auslegungsfrage entscheidungserheblich ist. Für andere Gerichte besteht nur die Möglichkeit der Vorlage. Das Vorabentscheidungsverfahren ermöglicht dem EuGH eine verbindliche Auslegung des Unionsrechts, um dessen einheitliche Anwendung in der gesamten EU sicherzustellen. Die Entscheidungen binden das nationale Gericht und prägen die Rechtsprechung in der gesamten EU. Weitere Informationen hierzu finden sie hier.
II. Neue Verteilung der Zuständigkeiten
Die erste große Änderung findet sich im Bereich der Zuständigkeiten für Vorabentscheidungsverfahren, die von nun an neu zwischen den Unionsgerichten geregelt werden.
1. Bisher geltendes Recht
Bislang waren Vorabentscheidungsverfahren ausschließlich Sache des EuGH – oft zum Frust der Beteiligten, da sowohl die Zahl der Vorabentscheidungsverfahren als auch die Komplexität der Sachverhalte seit Jahren kontinuierlich anstieg, die Satzung des Gerichtshofs sich jedoch nicht änderte. Dies hatte wiederum zur Folge, dass Vorabentscheidungsverfahren – für die das betroffene nationale Gerichtsverfahren in der Regel „pausiert“ wird – lange andauerten und mit erheblichen Kosten verbunden waren.
2. Reform
Der Überlastung des EuGH soll durch die Reform begegnet werden. Art. 256 Abs. 3 S. 1 AEUV eröffnet den Unionsorganen die Möglichkeit, dass das Europäische Gericht (EuG) „in besonderen in der Satzung festgelegten Sachgebieten für Vorabentscheidungen nach Art. 267 AEUV zuständig ist“. Von dieser Möglichkeit wurde nun Gebrauch gemacht. An das EuG übertragen werden die Vorlagen in den folgenden sechs Sachgebieten: das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (1), Verbrauchsteuern (2), Zollkodex (3), die zolltarifliche Einreihung von Waren in die Kombinierte Nomenklatur (4), Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Flug- und Fahrgäste im Fall der Nichtbeförderung, bei Verspätung oder bei Annullierung von Transportleistungen (5) sowie das System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten (6). Begründet wurde die Auswahl dieser Sachgebiete damit, dass innerhalb dieser Themenfelder bereits etablierte Rechtspraxis des EuGH bestehe und dort weniger Grundsatzfragen, die die Einheit des EU-Rechts berühren, aufkommen würden. Zudem seien die genannten Sachgebiete klar umrissen, d.h. es bestünden keine großen Überschneidungen mit anderen.
Das EuG soll sich bei der Entscheidung im zugewiesenen Vorabentscheidungsverfahren an der bestehenden Rechtsprechung des EuGH orientieren – wenn jedoch Grundsatzfragen aufkommen, wird das EuG den Fall an den EuGH verweisen. Auch in Fällen, in denen weitere Sachgebiete betroffen sind, bleibt weiterhin der EuGH zuständig.
Ob eine Vorlagefrage dem EuGH oder dem EuG zuzuweisen ist, prüft der Gerichtshof selbst – wenn während des Verfahrens offensichtlich wird, dass die Frage falsch zugewiesen wurde, verweist das EuG dieses an den EuGH und andersherum.
Zudem wird das EuG, welches bisher ohne Generalanwälte agierte, nun aus den eigenen Reihen solche bestellen. Diese werden, wie bei Verfahren vor dem EuGH, eine dem Gericht gegenüber beratende Rolle ausfüllen, ohne dabei die finale Entscheidungsgewalt zu haben. In den Urteilen bezüglich Vorabentscheidungen soll zudem in Zukunft zu Beginn kurz begründet werden, warum das urteilende Gericht für die betreffende Vorlagefrage zuständig ist.
3. Begründung
Der EuGH ist durch eine wachsende Anzahl an Verfahren stark belastet. Von der Neuverteilung der Vorabentscheidungsverfahren erhofft sich der Gerichtshof eine Reduzierung am EuGH um rund 20%. So will man erreichen, dass Vorabentscheidungsverfahren in Zukunft nicht nur schneller, sondern auch präziser im Sinne der Rechtssicherheit abgewickelt werden können. Der EuGH will so auch den Parteien in den Verfahren vor den nationalen Gerichten ihr Recht auf wirksamen Rechtsbehelf wahren und den Dialog mit nationalen Gerichten verbessern. Insgesamt soll die Effizienz von Vorabentscheidungsverfahren erhöht werden.
4. Bedeutung für die Praxis
Wichtig ist diese Änderung auch für Unternehmen, die in nationalen Gerichtsverfahren beteiligt sind, in denen eine Vorlagefrage an den EuGH gestellt wird. Können Vorabentscheidungs-verfahren in Zukunft deutlich schneller abgeschlossen werden, verringern sich die Verfahrensdauer- und kosten insgesamt.
Abzuwarten bleibt allerdings, wie sich die nun erforderliche Vorprüfung, die bei jedem Vorabentscheidungsverfahren durchgeführt werden muss, bevor dieses an den EuGH oder das EuG verwiesen wird, auswirkt. Zwar soll der hierfür erforderliche Zeitrahmen nicht über das hinausgehen, was „unbedingt erforderlich ist.“ Trotzdem bleibt abzuwarten, wie gut dieser neue Mechanismus funktionieren wird, oder ob die durch ihn bedingten zeitlichen Verzögerungen die Vorteile aus der neuen Zuständigkeitsverteilung übermäßig verringern.
Trotzdem ist die Reform ein großer Schritt in die richtige Richtung. Neben mehr Effizienz ist positiv hervorzuheben, dass der Gerichtshof sich im Sinne von Art. 47 Abs. 2 der Grundrechtecharte der EU um mehr Transparenz in seiner Vorgehensweise bemüht – dies wird bei der zweiten in diesem Beitrag behandelten Änderung noch deutlicher.
III. Neue Transparenzregelung für Schriftsätze und schriftliche Erklärungen
Denn der EuGH hat auch in Bezug auf den Zugang zu Verfahrensdokumenten in Vorabentscheidungsverfahren einen großen Reformschritt unternommen.
1. Bisher geltendes Recht
Wer sich schon einmal um Zugang zu Dokumenten bei den Unionsgerichten bemüht hat, weiß, dass viele Tätigkeiten dort „im Verborgenen“ stattfinden. Das in der Praxis zentrale Dokumentenzugangsrecht nach Art. 15 Abs. 3 UAbs. 4 AEUV gilt beim Gerichtshof nur dann, wenn dieser „Verwaltungsaufgaben“ wahrnimmt, bzw. es gilt nicht für dessen Rechtsprechungstätigkeit. Wie praxisfern dies mitunter ist, zeigt die Umgehungsstrategie, die sich aufgrund des fehlenden direkten Zugangs etabliert hat. So muss bisher bei der Europäischen Kommission Zugang zu solchen Dokumenten auf Grundlage der Verordnung (VO) 1049/2001 beantragt werden. Auch Zugang zu Schriftsätzen anderer Verfahrensparteien als der Kommission konnte auf diesem Weg erreicht werden, was allerdings wiederum eine Konsultation eben dieser Parteien erfordert. Insgesamt ein kompliziertes und von Umwegen geprägtes Verfahren – insbesondere war es in dem Sinne unbefriedigend, dass aufgrund des Umwegs über die Kommission oft eine Verfahrenspartei selbst darüber entscheidet, ob Zugang zu dem betreffenden Dokument gewährt wird.
2. Reform
Dabei gibt es bei abgeschlossen Verfahren oft keine validen Gründe, die gegen eine, ggf. auch nur teilweise Veröffentlichung der Schriftsätze sprechen. Dies wurde durch die Union erkannt, welche Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs nun um folgenden Absatz ergänzt hat:
„Die von einem Beteiligten gemäß diesem Artikel eingereichten Schriftsätze oder schriftlichen Erklärungen werden innerhalb einer angemessenen Frist nach Abschluss des Verfahrens auf der Website des Gerichtshofs der Europäischen Union veröffentlicht, es sei denn, der Beteiligte widerspricht der Veröffentlichung seiner eigenen Schriftsätze.“
Die Beschränkung der Regelung im Hinblick auf Vorabentscheidungsverfahren wird damit begründet, dass der Gerichtshof sich in diesen Verfahren oft mit besonders wichtigen Fragen beschäftige, insbesondere zu Grund- und Menschenrechten. Gegen einen Widerspruch gegen die Veröffentlichung eines Schriftsatzes gibt es keine Rechtsmittel.
3. Begründung
Die Reform des Zugangs zu Dokumenten lässt sich aus Sicht der EU besonders aus zwei Gründen herleiten. Zum einen soll dadurch die Qualität und Effizienz der Rechtsprechung erhöht werden. Gewichtiger jedoch dürfte sein, dass zum anderen durch eine erhöhte Transparenz und die erweiterte Möglichkeit eines Einblicks in die Vorgehensweise der Gerichtshof die Arbeit der Unionsgerichte mehr Legitimität erhält, insbesondere auch aus der Perspektive Verfahrensunbeteiligter.
4. Bedeutung für die Praxis
In der Praxis werden bezüglich der neuen Regelung wohl trotz des auf den ersten Blick durchweg positiven Einflusses in Hinblick auf die erhöhte Transparenz beim Gerichtshof mehrere Dinge zu beachten sein. Zum einen muss nun bei der Verfassung von Schriftsätzen darauf geachtet werden, dass deren potentielle Veröffentlichung weder die Privatsphäre noch den Schutz geschützter geschäftlicher Interessen beeinträchtigt. Außerdem gilt bezüglich des Vetorechts gegen die Veröffentlichung von Dokumenten: Was versteckt wird, macht andere oft neugierig. In solchen Verfahren wird demnach auf den Widerspruch gegen die Veröffentlichung regelmäßig ein Antrag auf Dokumentenzugang auf Basis der Verordnung 1049/2001 bei der Kommission erfolgen. Die betroffenen Verfahrensparteien sollten sich bewusst sein, dass es für die Geltendmachung einer Ausnahme gemäß Art.4 dieser Verordnung einer Rechtfertigung bedarf.
Insgesamt ist auch diese Maßnahme ein Schritt in die richtige Richtung, der für mehr Transparenz und somit zu mehr Vertrauen gegenüber den Unionsgerichten führen sollte.
Sie haben weitere Fragen zum in Kraft getretenen neuen Vorabentscheidungsverfahren? Sprechen Sie uns an!
Unser deutschsprachiger CBBL-Anwalt in Brüssel, Herr Rechtsanwalt und Advocaat Prof. Dr. Robin van der Hout, LL.M., berät Sie gerne: vanderhout@cbbl-lawyers.de, Tel. +32 - 2 - 234 11 60, www.kapellmann.de