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CBBL Rechtsanwalt und Advocaat Prof. Dr. Robin van der Hout, LL.M., Kanzlei Kapellmann und Partner Rechtsanwälte mbB, Brüssel
Prof. Dr. Robin van der Hout, LL.M.
Rechtsanwalt und Advocaat
Kapellmann und Partner Rechtsanwälte mbB, Brüssel

Aktuelles zum Kartellrecht und EU-Recht

Unabhängigkeitskriterium nicht ausreichend für die Qualifikation als KMU im Sinne des Beihilferechts

07.09.2021

Im EU-Recht ist der Begriff der kleinen und mittleren Unternehmen (kurz: KMU) von großer praktischer Relevanz.

Von unserem deutschsprachigen CBBL-Anwalt in Brüssel, Herrn Rechtsanwalt und Advocaat Prof. Dr. Robin van der Hout, LL.M., vanderhout@cbbl-lawyers.de, Tel. +32 - 2 - 234 11 60, www.kapellmann.de

KMU genießen im Beihilferecht eine Sonderstellung und können beispielsweise nach der Allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung (AGVO) höhere Förderhöchstsätze in Anspruch nehmen. Danach sind KMU – verkürzt gesprochen – Unternehmen, die nicht mehr als 249 Beschäftigte haben und einen Jahresumsatz von höchstens 50 Millionen € erwirtschaften oder eine Bilanzsumme von maximal 43 Millionen € aufweisen.

Der EuGH hat ein weiteres wegweisendes Urteil für den KMU-Begriff gefällt (Urteil vom 10.03.2021 – C-572/19 P). Der Gerichtshof stellte fest, dass bei der Beurteilung, ob ein Unternehmen ein KMU darstellt, nicht nur die formalen Voraussetzungen zu erfüllen sind. Vielmehr ist auch durch eine wirtschaftliche Betrachtungsweise zu bestimmen, ob das Unternehmen mit den typischen Nachteilen und Risiken der KMU konfrontiert ist.

Der zugrundeliegende Sachverhalt:

Die Rechtsmittelführerin European Road Transport Telematics Implementation Coordination Organisation-Intelligent Transport Systems & Services Europe (Ertico – IST Europe) ist eine Genossenschaft mit beschränkter Haftung belgischen Rechts. Sie stellt sowohl privaten als auch öffentlichen Wirtschaftsteilnehmern eine multisektorale Plattform im Bereich intelligenter Verkehrssysteme und Verkehrsdienste zur Verfügung. Nachdem sie Finanzhilfen der EU in Anspruch genommen hatte, entschied die Exekutivagentur für Forschung, dass die Rechtsmittelführerin nicht mehr als KMU im Sinne der KMU-Empfehlung (Empfehlung der Kommission vom 06.05.2003 betreffend die Definition der Kleinstunternehmen sowie der kleinen und mittleren Unternehmen 2003/36/EG Abl. L124/36) eingestuft werden könne.

Die Rechtsmittelführerin strebte vor dem EuG die Nichtigerklärung der streitigen Entscheidung an (EuG, Urteil vom 22.05.2019 - T-604/15, ECLI:EU:T:2019:348). Das Gericht wies diese Klage ab. Mit dem Rechtsmittel zum EuGH beantragt die Rechtsmittelführerin das angefochtene Urteil aufzuheben, die streitige Entscheidung für nichtig zu erklären und ihre KMU-Eigenschaft zu bestätigen. Auch der EuGH wies das Rechtsmittel allerdings zurück.

Rechtssicherheit als Zweck der KMU-Empfehlung

Aus dem ersten Erwägungsgrund und dem Benutzerleitfaden der KMU-Empfehlung lässt sich entnehmen, dass diese bezweckt, Rechtssicherheit zu gewährleisten. Die KMU-Definition ist ein praktisches Werkzeug und dient den Unternehmen bei der Selbstbewertung als Hilfe, damit sie in vollem Umfang die Unterstützung der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten erhalten können. Der Wortlaut der KMU-Empfehlung ist eindeutig und lässt keinen Raum für Auslegung (Urteil vom 10.03.2021 – C-572/19 P, Rn. 78).

Maßgeblich: Struktur des Unternehmens

Die den KMU gewährten Vorteile stellen meist Ausnahmen von allgemeinen Regeln – z. B. im Bereich der öffentlichen Auftragsvergabe und der staatlichen Beihilfen – dar. Aus diesem Grund ist der Begriff der KMU eng auszulegen (Urteil vom 27. Februar 2014, HaTeFo, C 110/13, EU:C:2014:114, Rn. 32). Die KMU-Empfehlung zielt auf eine Definition der KMU ab, die im Rahmen der Unionspolitiken innerhalb der Union verwendet wird und die wirtschaftliche Realität dieser Unternehmen berücksichtigt. Von dieser Kategorie sollen Unternehmensgruppen ausgenommen werden, welche über eine stärkere Wirtschaftskraft als das typische KMU verfügen. Die sich für die KMU aus verschiedenen Regelungen oder Maßnahmen zu ihrer Förderung ergebenden Vorteile sollen den Unternehmen vorbehalten werden, welche sie tatsächlich benötigen.

Damit nur Unternehmen erfasst werden, die tatsächlich unabhängige KMU darstellen, ist die Struktur von KMU zu untersuchen, die eine wirtschaftliche Gruppe bilden, deren Bedeutung über die eines solchen Unternehmens hinausgeht. Es ist darauf zu achten, dass die Definition der KMU nicht durch eine rein formale Erfüllung der Kriterien umgangen wird.

Typische Risiken des KMU sind entscheidend

Das Gericht führte kein neues Kriterium in die KMU-Empfehlung ein, wonach zu prüfen ist, ob das betreffende Unternehmen mit Nachteilen konfrontiert wird, denen KMU in der Regel aus-gesetzt sind. Es betonte, dass das Erfüllen der formalen Kriterien für Mitarbeiterzahlen und der finanziellen Schwellenwerte alleine nicht ausreichend ist. Bei der Beurteilung der KMU-Eigenschaft sind vielmehr Sinn und Zweck der KMU-Empfehlung heranzuziehen.

Das Kriterium der wirtschaftlichen Unabhängigkeit bezweckt, dass die für KMU vorgesehenen Maßnahmen tatsächlich diejenigen Unternehmen erreichen, deren geringe Größe für sie einen Nachteil bedeutet, nicht aber diejenigen, die einem Konzern angehören und Zugang zu Mitteln und Unterstützungen haben, die ihren gleich großen Konkurrenten nicht zur Verfügung stehen. Das Kriterium der Unabhängigkeit ist im Licht dieses Ziels auszulegen. Ein Unternehmen, das zu weniger als 25 % von einem großen Unternehmen gehalten wird und somit formal dieses Kriterium erfüllt, in Wirklichkeit aber zu einem Unternehmenskonzern gehört, kann gleichwohl nicht so betrachtet werden, als erfülle es dieses Kriterium. Gehört das Unternehmen bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise de facto zu einer großen Unternehmensgruppe und hat es Zugang zu Mitteln, Krediten und Unterstützungen aufgrund organisatorischer Verbindungen zwischen ihr und ihren Partnern oder Mitgliedern, wird es nicht mit den Nachteilen konfrontiert, denen KMU in der Regel ausgesetzt sind.

Die Ausführungen des EuGH sind grundsätzlich nachvollziehbar, dürften aber in der Praxis schwer umsetzbar sein, insbesondere wenn es darum geht, trennscharfe Abgrenzungen bei Unternehmen, welche formal die KMU-Kriterien erfüllen, zu finden. Es bleibt daher abzuwarten, wie die Europäische Kommission in ihrer Verwaltungspraxis mit diesen ergänzenden Vorgaben aus Luxemburg umgehen wird, und ob sie eine signifikante Änderung nach sich ziehen werden, weil die Kommission das ihr eingeräumte Ermessen proaktiver nutzt.

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Unser deutschsprachiger CBBL-Anwalt in Brüssel, Herr Rechtsanwalt und Advocaat Prof. Dr. Robin van der Hout, LL.M., berät Sie gerne: vanderhout@cbbl-lawyers.de, Tel. +32 - 2 - 234 11 60, www.kapellmann.de