Verhältnis EU-Recht/Nationales Recht
Von unserem deutschsprachigen CBBL-Anwalt in Brüssel, Herrn Rechtsanwalt und Advocaat Prof. Dr. Robin van der Hout, LL.M., vanderhout@cbbl-lawyers.de, Tel. +32 - 2 - 234 11 60, www.kapellmann.de
Ich habe Fragen zum Verhältnis zwischen Unionsrecht und nationalem Recht.
- Was ist die Europäische Union (EU) und welche Bereiche gehören zum „Europarecht“?
- Eine Norm des nationalen Rechts legt mir konkrete Handlungspflichten oder Verbote auf, widerspricht aber europäischen Vorschriften. Woran muss ich mich halten?
- Auf welche europäischen Normen kann ich mich gegenüber nationalen Behörden und vor nationalen Gerichten als Einzelner berufen bzw. welche europäischen Vorschriften verpflichten mich unmittelbar?
1. Was ist die Europäische Union (EU) und welche Bereiche gehören zum „Europarecht“?
Das Europarecht umfasst verschiedene Rechtsmaterien. Unter den Begriff fällt insbesondere das Recht der Europäischen Union, deren Grundlage der Vertrag über die Europäische Union (EUV), der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und die Europäische Grundrechtecharta sind. Doch unter das Europarecht fallen nicht nur Regelungen für die EU-Mitgliedstaaten. Daneben lassen sich unter den Begriff des Europarechts auch das Recht anderer europäischer Organisationen zum Europarecht im weiteren Sinne zählen, wie die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) des Europarats oder z.B. die den Freihandelsassoziationen EFTA und EWR zugrunde liegenden Verträgen.
Mit dem Vertrag von Lissabon ist die Europäische Union Rechtsnachfolgerin der Europäischen Gemeinschaft geworden und vollständig an deren Stelle getreten. Die frühere Unterscheidung der EU von der EG ist damit obsolet geworden. Die EU besitzt nach Artikel 47 EUV eigene Rechtspersönlichkeit und bietet ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen (Artikel 3 Absatz 2 EUV).
Der EUV und der AEUV stellen zusammen mit der gleichrangigen Europäischen Grundrechtecharta den Kern des europäischen Primärrechts dar. Der EUV formuliert dabei vor allem die Werte, Ziele und Grundlagen der EU, wie die Neugründung der Europäischen Union, die Achtung der Menschenwürde, den Frieden, den Beitritt zur EMRK, die Unionsbürgerschaft und das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung. Ferner sind auch bereits Grundlagen zu den Organen der Union und einzelnen Politikfeldern festgehalten. Der AEUV hingegen betrifft – seinem Namen entsprechend – vor allem die Arbeitsweise der Union und legt außerdem die Einzelheiten zur Ausübung der Unionszuständigkeit fest, Artikel 1 AEUV. Neben den detaillierten Regelungen zu den Organen der Union, ihren Rechtsakten und ihrem Gerichtssystem sind im AEUV auch die Grundfreiheiten der Union sowie nähere Ausführungen zu den Politikfeldern enthalten. Hinsichtlich der Rechtshandlungen der Unionsorgane (das sog. Sekundärrecht) lassen sich insb. Verordnungen, Richtlinien, Beschlüsse sowie Empfehlungen und Stellungnahmen unterscheiden, Artikel 288 AEUV. Mit der Europäischen Grundrechtecharta wurden erstmals Grund- und Menschenrechte auf europäischer Ebene schriftlich festgehalten. Die Charta statuiert in Artikel 1 die Unantastbarkeit der Menschenwürde und enthält in den Artikeln 2 bis 5 u.a. das Recht auf Leben und das Folterverbot. Sodann folgt ein Katalog aus Freiheits- und Gleichheitsrechten, u.a. das Recht auf Freiheit und Sicherheit in Artikel 6 und die Gleichheit vor dem Gesetz in Artikel 20. Artikel 51 der Charta umgrenzt den Anwendungsbereich auf die Durchführung des Rechts der Union durch ihre Organe.
Die Gerichtsbarkeit innerhalb der EU wird durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) und das Gericht der Europäischen Union (EuG) ausgeübt, deren Sitz sich in Luxemburg befindet. Zwischen 2005 und 2016 war das Gericht für den öffentlichen Dienst das Fachgericht für die den öffentlichen Dienst der EU betreffenden Streitangelegenheiten. Mittlerweile ist wieder das EuG für diese Streitsachen als auch vor allem als Eingangsinstanz für Individualbeschwerden gegen Handlungen der EU-Organe zuständig. Der EuGH dagegen dient als „Verfassungsgericht“ unter anderem als Eingangsinstanz für Klagen der EU-Mitgliedstaaten gegen EU-Organe und vice versa sowie als Revisionsinstanz gegen Entscheidungen des EuG. Soweit im Folgenden von Unionsgerichtsbarkeit gesprochen wird, soll sich dies sowohl auf den EuGH als auch das EuG beziehen.
Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) ist vom Recht der Europäischen Union unabhängig und ein im Rahmen des Europarats abgeschlossener völkerrechtlicher Vertrag, dem sich 47 Mitglieder angeschlossen haben, so etwa auch Russland. Alle Mitgliedstaaten der EU sind auch Mitgliedstaaten der EMRK. Die EMRK und ihre Zusatzprotokolle enthalten einen Katalog von Grundfreiheiten und Menschenrechten (z.B. das Recht auf Meinungsfreiheit und das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren), die von jedem der Unterzeichnerstaaten dieser Konvention respektiert werden müssen. Über die Einhaltung dieser Konvention wacht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg.
Die EU selbst ist bislang kein Mitglied der EMRK und kann daher nicht vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verklagt werden. Nach Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages sieht Artikel 6 Absatz 2 EUV den Beitritt der EU zur EMRK zwar ausdrücklich vor, allerdings gestalten sich die Verhandlungen für ein Beitrittsabkommen schwierig. Nachdem im Juli 2013 von der Europäischen Kommission beim EuGH ein Gutachten nach Artikel 218 Absatz 11 AEUV angefordert wurde, kam es zu einer überraschenden Ablehnung des Verhandlungsergebnisses durch das Gutachten 2/13 vom 18.12.2014. Der EuGH hat insbesondere kritisiert, dass durch einen Beitritt der EU zur EMRK die Auslegung des Unionsrechts nicht mehr ausschließlich dem EuGH vorbehalten wäre und, dass außerdem die Besonderheit, dass es sich bei der EU nicht um einen Staat handele, nicht ausreichend gewürdigt werde. Der EuGH stellte sodann Voraussetzungen auf, die erfüllt werden müssten, um einen Beitritt zu ermöglichen. Die dazu zwischen Europarat und EU aufgenommenen Verhandlungen dauern an und es ist gegenwärtig noch nicht absehbar, wann die EU ihrer primärrechtlichen Beitrittspflicht nach Artikel 6 Absatz 2 EUV nachkommt.
Nach der Rechtsprechung des EGMR ist es aber in Ausnahmefällen trotzdem möglich, einen EU-Mitgliedstaat aufgrund eines Verstoßes von Unionsrecht gegen die EMRK vor dem EGMR zu verklagen. Hintergrund ist, dass ein großer Teil des Unionsrechts von den EU-Mitgliedstaaten erst noch in nationales Recht umgesetzt oder zumindest von den nationalen Behörden durchgeführt werden muss und die potentielle Konventionsverletzung damit auch auf einem Verhalten des EU-Mitgliedstaates beruht. Ein EU-Mitgliedstaat kann sein Verhalten also nicht mit einer „Flucht ins Unionsrecht“ verteidigen. Eine Konventionsverletzung soll nach dem EGMR aber nur dann vorliegen, wenn entweder ein mit der Konvention vergleichbarer Grundrechtsschutz auf der Ebene der EU (generell) nicht länger gewährleistet wird oder aber im konkreten Einzelfall ein offenkundig unzureichender Grundrechtsschutz vorliegt. Aus diesem Grund wird es dem Rechtsschutz suchenden Bürger nur in Ausnahmefällen gelingen können, Konventionsverletzungen, die maßgeblich auf das Handeln von EU-Organen zurückzuführen sind, durch den EGMR feststellen zu lassen.
[Rechtsquellen: Artikel 6 Absatz 2 EUV, Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4.11.1950, BGBl. 1952 II 686, nunmehr i. d. F. des Protokolls Nr. 11 vom 11. Mai 1994, BGBl. 1995 II, 578.]
2. Eine Norm des nationalen Rechts legt mir konkrete Handlungspflichten oder Verbote auf, widerspricht aber europäischen Vorschriften. Woran muss ich mich halten?
Das Unionsrecht genießt nach der ständigen Rechtsprechung der Unionsgerichtsbarkeit (Europäischer Gerichtshof (EuGH) und Europäisches Gericht (EuG)) prinzipiell Vorrang vor dem nationalen Recht. Dies bedeutet, dass eine Vorschrift des nationalen Rechts, die im Widerspruch zu europäischen Vorschriften steht, von nationalen Behörden und Gerichten zunächst durch eine unionsrechtskonforme Auslegung in Einklang mit letzterer gebracht werden muss. Ist dies nicht möglich, darf die nationale Norm im konkreten Fall nicht angewendet werden (sog. Anwendungsvorrang des Unionsrechts). Die Erklärung 17 zur Schlussakte von Lissabon schreibt den Anwendungsvorrang nun auch explizit fest.
Das Unionsrecht beansprucht allerdings keinen Geltungsvorrang, wie er z.B. im Verhältnis von Bundes- zu Landesrecht in Deutschland besteht (vgl. Artikel 31 GG: „Bundesrecht bricht Landesrecht“). Nationale Normen, die dem Unionsrecht widersprechen, bleiben daher gültig und dürfen weiterhin auf rein innerstaatliche Sachverhalte angewendet werden; nur im Konfliktfall mit Unionsrecht müssen sie unangewendet bleiben.
Der unionsrechtliche Anwendungsvorrang gilt unabhängig davon, ob es sich bei der betreffenden europäischen Norm um eine Vorschrift aus dem sog. Primärrecht (insbesondere EUV und AEUV) oder um europäisches Sekundärrecht (z.B. eine Verordnung oder Richtlinie) handelt.
Folglich kann und muss sich jede natürliche Person und jedes im europäischen Binnenmarkt aktive Unternehmen grundsätzlich an europäische Vorschriften halten, soweit sie konkrete Pflichten auferlegen. In der Praxis ist allerdings zu beachten, dass der Verstoß der nationalen Regelung gegen europäisches Recht evident sein muss. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn sich die Unionsrechtswidrigkeit eindeutig aus der Rechtsprechung der Unionsgerichtsbarkeit ergibt. Haben sich die Unionsgerichte zu dem konkreten Problem bisher nicht geäußert, bedarf es im Interesse der Rechtssicherheit einer besonders sorgfältigen Prüfung. Erst wenn danach feststeht, dass die nationale Vorschrift europäischem Recht widerspricht, darf sie im Einzelfall außer Acht gelassen werden.
In Zweifelsfällen kann das angerufene Gericht ein anhängiges Gerichtsverfahren aussetzen und eine Vorlagefrage an den EuGH richten (sog. Vorabentscheidungsverfahren gemäß Artikel 267 AEUV). Siehe dazu näher unter: "Ich habe Fragen zu Problemen des Binnenmarktes" (1. Frage) und zum "EU-Prozessrecht" (3. Frage). Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang, dass Entscheidungen des EuGH über die Auslegung des Unionsrechts ebenfalls Vorrang vor Entscheidungen nationaler Gerichte haben, da ansonsten der Vorrang des Unionsrechts vor dem nationalen Recht unterlaufen würde. Dieser Vorrang wurde jedoch von einigen Mitgliedsstaaten durch nationale Rechtsprechung relativiert und indirekt in Frage gestellt. So hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) sich bereits in der Vergangenheit die Möglichkeit vorbehalten sog. „ultra vires Akte“ der europäischen Organe für unanwendbar zu erklären. Im Jahr 2020 hat das BVerfG dann erstmalig von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht und ein Urteil des EuGH bzgl. des Anleihekaufprogramms PSPP der EZB als „ultra vires“ angesehen. Infolgedessen hat das BVerfG die Konformität des PSPP eigenständig beurteilt und dadurch eine große Debatte über den Vorrang des Unionsrechts ausgelöst. Aber auch Gerichtsbarkeiten anderer Mitgliedsstaaten, wie Polen – die teilweise auf die Rechtsprechung des BVerfG verweisen – haben bereits Urteile erlassen, die dem Vorrang des Unionsrechts zuwiderlaufen.
[Urteile: EuGH, Rs. 6/64, Costa ./. E.N.E.L., Slg. 1964, 1251.]
3. Auf welche europäischen Normen kann ich mich gegenüber nationalen Behörden und vor nationalen Gerichten als Einzelner berufen bzw. welche europäischen Vorschriften verpflichten mich unmittelbar?
In dem Urteil van Gend & Loos gegen Niederländische Finanzverwaltung verankert der EuGH die unmittelbare Wirkung des Rechts der Europäischen Union. Das Urteil besagt, dass das (heute) Unionsrecht nicht nur Verpflichtungen für die Mitgliedstaaten der EU, sondern auch Rechte für Einzelne hervorbringt. Einzelne können daher von diesen Rechten Gebrauch machen und sich vor nationalen und europäischen Gerichten direkt auf das Unionsrecht berufen, unabhängig davon, ob eine Prüfung nach nationalem Recht vorliegt (d.h. wenn es nach nationalem Recht keinen Rechtsbehelf gibt). Natürliche und juristische Personen können sich gegenüber nationalen Behörden nur auf solche europäischen Normen berufen oder werden durch solche verpflichtet, die unmittelbar anwendbar sind. Dies setzt voraus, dass die betreffende Vorschrift „rechtlich vollkommen“ (self-executing), d.h. ohne jede weitere Konkretisierung anwendbar und unbedingt ist. Sie muss den EU-Mitgliedstaaten eine Handlungs- oder Unterlassungspflicht auferlegen, die keine weiteren Vollzugsmaßnahmen auf nationaler Ebene erfordert. Die nationalen Behörden dürfen also keinen Ermessensspielraum bei der Anwendung der europäischen Norm haben. Die Vorschrift muss außerdem unmittelbar Rechte und Pflichten von Individuen begründen.
Sowohl Vorschriften des Primärrechts (insb. EUV und AEUV) als auch des Sekundärrechts (insb. Verordnungen und im Ausnahmefall Richtlinien, s.u.) können nach diesen Maßgaben unmittelbar anwendbar sein. Dabei ragen die vier europäischen Grundfreiheiten (freier Warenverkehr, Personenfreizügigkeit, freier Dienstleistungsverkehr, freier Kapitalverkehr) heraus, die alle von der Unionsgerichtsbarkeit für unmittelbar anwendbar erklärt wurden. Dies gilt grundsätzlich nur im Verhältnis Bürger – Staat, nicht jedoch zwischen natürlichen oder juristischen Personen untereinander. Die Annahme einer solchen Drittwirkung würde nämlich zu einer Einschränkung der Privatautonomie der beteiligten Wirtschaftsteilnehmer führen. Eine Drittwirkung kann daher nur in solchen Ausnahmefällen angenommen werden, in denen das Verhalten Privater zu einer Problemlage führt, die mit einer staatlichen Beschränkung vergleichbar ist. Hierbei muss nach der Rechtsprechung des EuGH auch zwischen den verschiedenen Grundfreiheiten differenziert werden. Ebenso sind z.B. EU-Verordnungen unmittelbar anwendbar und müssen durch die nationalen Behörden vollzogen werden.
Bei Richtlinien der Europäischen Union sind einige Besonderheiten zu beachten. Richtlinien zeichnen sich – im Unterschied zu Verordnungen – dadurch aus, dass sie grundsätzlich nicht unmittelbar in den Mitgliedstaaten gelten, sondern von diesen erst noch in nationales Recht umgesetzt werden müssen (vgl. Artikel 288 Absatz 3 AEUV). Gleichwohl besitzen die Richtlinien eine Verbindlichkeit hinsichtlich des Ziels und die Mitgliedstaaten haben nicht die Freiheit, durch schlichtes Nichtumsetzen einer Richtlinie den Eintritt der beabsichtigten Rechtswirkungen zu verhindern oder zu verzögern. Dies würde die praktische Wirksamkeit der Richtlinie (sog. effet utile) beeinträchtigen und die Rechte derjenigen vereiteln, die durch die Richtlinie bevorteilt werden sollen. Nach der Rechtsprechung des EuGH entfalten Richtlinien deswegen unmittelbare Wirkungen, wenn die konkrete Bestimmung in der Richtlinie nach Rechtsnatur, Systematik und Wortlaut geeignet ist, unmittelbare Wirkungen in den Rechtsbeziehungen zwischen den Mitgliedsstaaten und dem Einzelnen zu begründen. Dabei stellt der EuGH folgende Voraussetzungen für die direkte Anwendbarkeit auf:
Die Richtlinie muss (1) nicht fristgemäß oder inhaltlich nicht ordnungsgemäß umgesetzt worden sein und die Bestimmungen der Richtlinie müssen (2) inhaltlich unbedingt sowie (3) hinreichend genau sein. Inhaltliche Unbedingtheit liegt vor, wenn die Bestimmungen der Richtlinie vorbehaltlos und ohne Bedingung anwendbar sind und keiner weiteren Maßnahmen der Mitgliedstaaten oder der Europäischen Union bedürfen. Hinreichend genau ist eine Richtlinienbestimmung, wenn sie unzweideutig eine Verpflichtung begründet. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, kann sich der Einzelne ausnahmsweise direkt auf die Richtlinie berufen.
Außerdem ist zu beachten, dass die unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien bei nicht fristgerechter oder inhaltlich fehlerhafter Umsetzung nur zu einer Verpflichtung der Mitgliedstaaten führen kann, nicht aber zu einer Verpflichtung des Einzelnen gegenüber dem Staat (der Mitgliedstaat besitzt schließlich die Möglichkeit, die Richtlinie umzusetzen und die belastende Regelung dann auf Grundlage des nationalen Rechts anzuwenden).
Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass die direkte Wirkung einer Richtlinie bislang nur im Verhältnis des Bürgers bzw. des Unternehmens zum Staat („vertikal“) vom EuGH anerkannt wurde, nicht aber zwischen Einzelnen (Bürger/Unternehmen) untereinander („horizontal“). Dies folgt daraus, dass grundsätzlich nur die EU-Mitgliedstaaten Adressaten der jeweiligen Richtlinie sind, nicht dagegen der Einzelne, der vor Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht nicht von dieser belastet werden soll.
Allerdings befindet sich diese Rechtsprechung seit einiger Zeit im Fluss. Vereinzelt hat der EuGH bereits entschieden, dass eine mittelbare Drittwirkung zwischen Bürgern / Unternehmen untereinander hinzunehmen sei. Beispielsweise wird eine solche direkte Wirkung für Unternehmen, die kraft staatlichen Rechtsaktes Dienstleistungen im öffentlichen Interesse erbringen, angenommen. Ihnen kann unabhängig von ihrer Rechtsform eine unmittelbar anwendbare Richtlinienbestimmung entgegengehalten werden.
Als einzelner Bürger oder einzelnes Unternehmen kann man sich gegenüber nationalen Behörden und Gerichten also nur auf solche europäischen Normen berufen, die unmittelbar anwendbar bzw. wirksam sind. Ebenso können auch nur solche Vorschriften eine direkte Verpflichtung auferlegen.
[Urteile: EuGH, Rs. 26/62, van Gend & Loos ./. Niederländische Finanzverwaltung, Slg. 1963, 1; EuGH, Rs. 41/74, van Duyn ./. Home Office, Slg. 1974, 1337; EuGH, Rs. C-201/02, Delena Wells, Slg. 2001, I-723; EuGH Rs. C-356/05 (Farell), Slg.2007, I-3067, Rn. 40; EuGH Rs. C-282/10 (Dominguez), Urteil vom 24.01.2012 Rn.39.]
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Stand der Bearbeitung: Juni 2024